Engagement statt Ruhestand: Mit transkultureller Traumapädagogik in der Flüchtlingshilfe

Auf wilde Safari gehen, mit dem Kreuzfahrtschiff die sieben Meere bereisen oder ganz entspannt den Tag am Strand von Malta ausklingen lassen: So stellen sich viele ihre Rentenzeit vor. Nicht so Birgid Weller. Mit 79 Jahren hat sie sich als ehrenamtliche Flüchtlingshelferin noch einmal hinter die Schulbank getraut und den Zertifikatskurs „Transkulturelle Traumapädagogik“ besucht.

Hauptberuflich sei sie Oma von vier Enkelkindern, beschreibt sich Birgid Weller selbst. Seit 15 Jahren ist sie mittlerweile in Rente, hat davor fast vierzig Jahre als Krankenhauspsychiaterin in Winnenden gearbeitet, war Chefärztin der Klinik für Suchttherapie. „Es hat mir leidgetan, als es dann zu Ende war mit noch nicht ganz 65 Jahren. Aber Rente ist wunderbar“, lacht sie.

Diese Zeit füllt sie mit ehrenamtlichem Engagement, insbesondere in der Flüchtlingshilfe. Dabei geht es vor allem um den persönlichen Kontakt mit den Geflüchteten, um Unterstützung bei dem für sie oft bürokratischen Neuland und der fremden Sprache. „Und da sind dann ja immer noch andere Fragestellungen und Hilfen mit dabei“, erklärt Birgid Weller. Themen wie Traumatisierungen zum Beispiel. Diese können unterschiedlichste Ursachen haben, daher bedarf es auch einer individuellen psychologischen Behandlung. Kompliziert wird es, wenn therapeutische Hilfe auf Erkrankte aus einem anderen Kulturkreis stößt. Denn auch Krankheitsbilder und Therapieansätze sind kulturabhängig – und das ist, so Birgid Weller, die größte Herausforderung bei der Behandlung.

Über einen Newsletter, den sie aufgrund regelmäßiger Teilnahme am Migrationsforum der MediClin in Donaueschingen erhielt, wurde sie auf den Zertifikatskurs „Transkulturelle Traumapädagogik“ am DHBW CAS aufmerksam. Die Entscheidung für den Kurs war dann eine sehr spontane. „Da habe ich natürlich überlegt: Für das Geld kann man auch schön am Mittelmeer liegen oder Kreuzfahrten machen. Ich habe mir alles Mögliche Schöne überlegt, das eine alte Dame für das Geld machen kann und es hat mich nichts mehr gereizt als dieser Kurs. Deswegen bin ich dann hier gelandet – und bereut habe ich nichts.“ Sie habe sich in das Angebot verliebt, gesteht sie mit einem Lachen. „Das ist vom Alter wirklich etwas Tolles. Ich habe die Freiheit als alte Frau, einfach hin zu gehen, weil ich Lust darauf habe.“ Eine Hauptmotivation war außerdem ihre Begeisterung für Kursleiter Prof. Dr. Jan Ilhan Kizilhan, seine Arbeit und Werke, verrät sie. „Begeisterung im Alter ist ein wohltuendes Geschenk des Lebens.“

Weil sie niemandem etwas beweisen müsse, entschloss Birgid Weller sich, den Kurs ohne Prüfungen abzuschließen – es würde anderen nur Raum und Zeit wegnehmen, schließlich brauche sie das für ihren Werdegang nicht mehr. Heute würde sie es wahrscheinlich anders machen: „Das sind Bausteine, die auch den Zusammenhalt in der Gruppe nochmal extra fördern."

Gut aufgenommen

„Ich hatte Skrupel, muss ich schon sagen“, erzählt Birgid Weller. Statt mit einem Koffer voller Erwartungen reiste sie am ersten Tag mit ein paar Bedenken an. „In den Achtzigerjahren ging es los damit, dass Rentner auf die Unis gesaust sind. Und da hat man zuerst gesagt, wie toll das ist. Bis die Studierenden gemerkt haben, die Rentner breiten sich aus und lassen ihnen keinen Raum. Da wollte ich schon aufpassen, dass das nicht passiert.“ Die Zweifel legten sich schnell, Birgid Weller stieß nicht nur in eine bunt durchmischte, sondern sehr aufgeschlossene Gruppe. Von ihren Kommiliton*innen, so beschreibt sie, konnte sie unheimlich viel mitnehmen, hat sehr viel Offenheit und Hilfsbereitschaft erlebt. „Ich habe neue Hochachtung für unsere jungen Mitmenschen gelernt, besonders für den Mut und die Tüchtigkeit derjenigen mit Migrationshintergrund.“ Im Gegenzug konnte sie mit ihrer beruflichen Erfahrung genauso viel zurückgeben.

Besonders beeindruckt und begeistert haben sie die Dozierenden des Kurses. Nicht nur vom fachlichen Hintergrund, sondern den persönlichen Erlebnissen. „Ein Dozent hat erzählt, wie er selbst als verlorenes Flüchtlingskind nach Deutschland gekommen sei und von einer alten Nachbarin aufgefangen, unterstützt und gefördert wurde.“ Die vielen Geschichten über die eigenen Erlebnisse in der Flüchtlingshilfe, die unterschiedlichen Bereiche, aus denen alle kommen und die sie dann doch an denselben Ort geleitet haben, an dem sie heute stehen – das findet sie beeindruckend.

Ein Überraschungsgeschenk

Als Flüchtlingshelferin bringt Birgid Weller ein paar geflüchteten Frauen Deutsch bei. Eine davon, stellt sie fest, ist eindeutig traumatisiert. „Da hat mich der Kurs sensibilisiert und zu einem klugen, behutsamen Umgang befähigt.“ In ihrem Umkreis habe sich das schnell weitergesprochen: „Von mehreren Flüchtlingshelfer*innen bin ich wegen ihrer Schützlinge angesprochen worden und konnte das Gelernte gemeinsam mit ihnen anwenden.“ Für traumapädagogische Aktivitäten sucht sie sich nun einen klaren Rahmen, versucht aber auch die vielen neuen Fragen zu beantworten, die seither aufgetaucht sind. „Wie organisieren Arztpraxen und Krankenhäuser die Verständigung mit Fremdsprachler*innen? Welchen Einfluss haben diese ganzen Gefühle des ungerecht-behandelt-worden-seins auf die Symptomatik der Posttraumatischen Behandlungsstörung, die viele Geflüchtete aufweisen? Das treibt mich nun um.“

So viel der Kurs ihr in der Arbeit mit Geflüchteten hilft, so sehr hat er auch ihre eigene Lebens-Arbeitsbilanz verändert: „Ich dachte zunächst ja, dass es eine gute Zeit sein wird, eine Wissenserweiterung und Kompetenzerweiterung für meine Flüchtlingsarbeit – und habe andere Dinge erlebt.“ Es ging ihr richtig gut, beschreibt Birgid Weller, ein besserer Erholungseffekt als nach einer Kur im Schwarzwald. Bereits während der ersten Studientage beschäftigte sie sich intensiv mit ihren eigenen Stärken und Kompetenzen, etwas, dass in letzter Zeit ein wenig abhandengekommen war. „Es gab eine Zeit, in der ich irgendwie dachte, was habe ich hingekriegt? Warst du überhaupt eine gute Ärztin? Hast du überhaupt einen einzigen Menschen gescheit diagnostiziert oder geheilt? Und dann dachte ich, das ist doch mal schräg, dass ich meine Vergangenheit so betrachte. Und hier war es wie von Zauberhand verschwunden und hat sich in einen einfach richtig schönen, guten und gesunden Rückblick verwandelt.“ Ein Effekt, mit dem sie überhaupt nicht gerechnet hätte und den sie auch nirgendwo direkt suchte. „Ein totales Überraschungsgeschenk.“

Neuer Studiengang „Transkulturelle Traumapädagogik“

Mittlerweile gibt es den Zertifikatskurs auch als Master-Studiengang „Transkulturelle Traumapädagogik“, der zum Wintersemester 2024/2025 erstmals startet. Wissenschaftlicher Leiter ist Prof. Kizilhan, der bereits den Zertifikatskurs leitete. Egal ob Studium oder Kurs – Birgid Weller würde beides klar empfehlen. Menschen ganz unterschiedlicher sozialer und beruflicher Herkunft engagieren sich im Ehrenamt für Geflüchtete, weiß sie. Ihr Interesse an einer Weiterbildung in der transkulturellen Traumapädagogik und den damit verbundenen interkulturellen Fragen keimte erst so richtig während ihrer eigenen ehrenamtlichen Arbeit auf. Gerade deswegen ist sie selbst so davon überzeugt, dass alle, die mit geflüchteten Menschen kommunizieren, von Zertifikatskurs oder Studium profitieren würden: „Man lernt sein Gegenüber deutlich besser zu verstehen, lernt, sich besser in sie und ihre Herausforderungen einzufühlen. Man bekommt quasi das Handwerkszeug für diese Arbeit und fühlt sich selbst dadurch natürlich sicherer und behaglicher – und das ist doch ein großer Gewinn für die Effektivität der ehrenamtlichen Arbeit mit Geflüchteten und die eigene Ehrenamtszufriedenheit.“

Mehr Informationen zum Zertifikatskurs Transkulturelle Traumapädagogik

Mehr Informationen zum neuen Master-Studiengang Transkulturelle Traumapädagogik