„Die globalen Lieferketten müssen neu justiert werden“

Die Coronakrise und der Krieg in der Ukraine haben bewährte Beschaffungskonzepte an ihre Grenzen gebracht. Prof. Dr. Michael Schröder, Wissenschaftlicher Leiter am DHBW CAS im Masterstudiengang Supply Chain Management, Logistics, Production, erklärt im Interview, welche Ansätze Unternehmen verfolgen können, um die Herausforderungen der gestörten Lieferketten zu meistern.

Wie schätzen Sie die aktuelle Situation der Lieferketten ein?

Wir erleben eine historisch einmalige Ballung schlechter Ereignisse: Mehrere Faktoren, genau gesagt: die Coronakrise, die Havarie des Frachters „Ever Given“ im Suez Kanal im März 2021 und nun der Krieg in der Ukraine stellen den globalen Welthandel vor eine echte Herausforderung. Die globalen Lieferketten müssen daher neu justiert werden.

Welche Justierungen sehen Sie denn von Seiten der Unternehmen, die umgesetzt werden können, um diese Herausforderung der gestörten Lieferketten anzugehen?

Die erste Option – gleichzeitig aber das dickste Brett – besteht in der Standortwahl. Unternehmen müssen zwar ohnehin permanent Standorte hinterfragen. Allerdings ist es ein schwieriges Unterfangen, ein Werk in China abzubauen und es in Deutschland bzw. Europa aufzubauen. Vereinzelt wird dies auch schon unternommen, jedoch ist es absolut unrealistisch, dass eine Produktion kurzfristig aus beispielsweise China nach Europa, geschweige denn nach Deutschland heimgeholt werden kann. Allein die Proteste aus der Gesellschaft hinsichtlich der Bauvorhaben für Fabriken, aber auch die Komplexität und Länge der Baufeststellungsverfahren würden diesem Vorhaben direkt einen Riegel vorschieben.

Als zweite Option können Unternehmen – sogar kurzfristig – die Transportrouten verändern. Beispielsweise kann ein Unternehmen, das sich die Waren per Containerschiff aus Asien nach Rotterdam anliefern lässt, einen Teil dieser Waren per Flugzeug oder – denkt man an mögliche Routen der „Neuen Seidenstraße“ – per Bahn oder sogar per Lkw transportieren lassen. Eine weitere Nuance hierbei wäre ein Single oder Multiple Sourcing im Frachteneinkauf, konkret: die Hinzunahme einer oder mehrerer weiterer Transporteure, die alternative Routen fahren. Hierbei sind jedoch die Transportkosten zu beachten, die dadurch potenziell steigen, denn im Einkauf gelten die klassischen Skaleneffekte: Der Stückpreis sinkt mit der Menge, die nun aber aufgesplittet werden würde.

Als dritte Option sollten Unternehmen ihre grundsätzliche Sourcing-Strategie neu überdenken und permanent die Systematisierung von Material und Waren überdenken. Was sind Engpassteile, was die Hebelprodukte? Habe ich strategische Produkte, habe ich unkritische Teile? Falls ein Material falsch kategorisiert ist, muss die Einkaufsstrategie eben anpasst werden, beispielsweise hierfür das klassische Multiple Sourcing anwenden. Das heißt, dass sich Einkäufer absichern und über mehrere Lieferanten Waren beziehen, anstatt die einfache, aber günstigere Strategie des Single Sourcing mit nur einem Lieferanten anzuwenden.

Dementsprechend hätten viele Unternehmen diese Beschaffungsprobleme auch rechtzeitig mit anderen Strategien eindämmen können?

Wenn die Unternehmen ihren Einkauf immer wieder hinterfragt hätten, hätte es sehr wahrscheinlich in weniger Fällen diese Schwierigkeiten bei der Beschaffung der Waren gegeben. Wenn ein Unternehmen beispielsweise in Fernost einen günstigen Lieferanten hat, muss es einfach möglich sein, dass es über diesen nur noch 80 % anstatt 100 % der Waren bezieht, und dann wiederum 20 % der Waren von einem deutschen oder europäischen Lieferanten annimmt, der vielleicht teurer, aber dafür regional, also näher ist. Ich denke, dass die Lieferkette neu strukturiert wird, indem grundsätzlich Bestände steigen, um sich als Unternehmen abzusichern, und insbesondere, indem wieder wie früher Sicherheitsbestände aufgebaut werden, die dafür sorgen, die Volatilität der Nachfrage aufzufangen. Es wird dazu führen, dass mehr Läger – und damit Fläche – benötigt werden, wodurch zwar die Kapitalbindung wächst, die Industrie jedoch weiter produzieren und der Handel weiterhin verkaufen kann.

Also wird es eine Abkehr von Just-in-Time-Konzepten geben?

Just-in-Time-Konzepte sind für die Abnehmer eine zurecht bequeme Lösung, in der Produkte bestandslos angeliefert wurden, genau dann, wenn sie benötigt werden. Das hat jahrzehntelang reibungslos funktioniert, muss nun aber punktuell hinterfragt werden. Es gibt auch in diesem Bereich immer wieder wechselnde Zyklen bei wirtschaftlichen Trends. Nun treten wir in eine neue Phase ein, und Bestände werden höchstwahrscheinlich global wieder steigen.

Wie kann dieses Wissen angehenden, aber auch bestehenden Fachkräften vermittelt werden?

Unser Masterstudiengangangebot für Supply Chain Management, Logistics, Production spiegelt den Zeitgeist wider. Studieninteressierte und Partnerunternehmen der dualen Studierenden können am DHBW CAS aus 350 fachübergreifenden Modulen auswählen, um sich – beziehungsweise die Mitarbeitenden – in jedem möglichen betrieblichen Thema weiterzubilden. Das ist in dieser Form und Auswahl einmalig

Unternehmen, die ihre Mitarbeitenden nur punktuell fachlich oder persönlich weiterentwickeln möchten, können im Rahmen der Wissenschaftlichen Weiterbildung am DHBW CAS sogenannte Zertifikatsprogramme oder auch nur ausgewählte Module belegen, sprich: einkaufen. So biete ich beispielsweise für Fach- und Führungskräfte immer wieder das Modul Outsourcing und Ausschreibungsmanagement an, um bei Fracht- oder Lagerausschreibungen sowie bei Fragen der Standortwahl gerüstet zu sein – seitens der Ausschreibenden wie auch seitens der Logistikdienstleister.

 

Zur Person

Professor Dr. Michael Schröder (*1970) lehrt seit 2009 an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) Mannheim und ist Wissenschaftlicher Leiter des dualen Masterprogramms „Supply Chain Management, Logistics, Production“ am DHBW CAS. Gelernter Industriekaufmann (Stammhauslehre) bei Siemens, Studium und Promotion an der Universität Mannheim, danach fünf Jahre Berater bei TIM CONSULT, Mannheim, im Bereich Business Logistics. Professor Schröder war Mitgründer des Logistik-Netzwerkes Baden-Württemberg (LogBW) und war zwölf Jahre Regionalgruppensprecher Rhein/Neckar der Bundesvereinigung Logistik (BVL). Als Autor, Referent und Moderator beleuchtet er immer wieder aktuelle Veränderungen entlang der Wertschöpfungskette und stellt er sich insbesondere der den Wirtschaftsstandort Deutschland gefährdenden Kritik an betrieblichen Standortentscheidungen.